Ein Kristallkronleuchter vpr schwarzem Hintergrund.

Die Zauberer der Étoiles Terrestres

Fotonachweis: Oliver Raatz

Sie hantieren mit über 1000 Grad Celsius heißer Masse und erschaffen filigrane Kunst – in den nördlichen Vogesen fertigen sie Glas- und Kristallwaren von Hand und das seit hunderten von Jahren. Ein Besuch der Étoiles Terrestres – der Glasmanufakturen in Meisenthal und Saint-Louis.

15 Augenpaare blicken gespannt auf Emmylou und ihre Kollegen hinab. Die Gäste haben sich am Geländer der Besucherplattform aufgestellt, die ein Stockwerk über der Werkstatt liegt. Die Hitze, die von den drei Öfen aufsteigt, lässt die Zuschauer erahnen, wie heiß es unten bei den Glasbläsern sein muss. „Hallo, liebe Gäste“, sagt Emmylou in das Mikrophon und blickt freundlich zu den Zuschauern hinauf. „Heute zeigen wir euch die Herstellung der berühmten Meisenthaler Christbaumkugeln.“

Und schon bewegen sich die drei Glasbläser wie in einer einstudierten Choreographie durch die Werkstatt. Den Zuschauern zugewandt präsentiert Emmylou ihr Werkzeug: „Das ist meine Glasmacherpfeife, eine hohle, lange Stange durch die ich pusten kann,“ erklärt sie. „Während ich sie nicht benutze, lege ich sie bis zur Hälfte in den 500 Grad Celsius heißen Pfeifenwärmer-Ofen. Wäre die Pfeife kälter, würde die Masse nicht daran haften bleiben.“

Sie geht mit dem Stab zum Schmelzofen, in dem eine rot glühende Suppe aus Quarzsand, Soda und Kalk schwimmt. Sie taucht die Spitze vorsichtig ein und formt unter ständigem Drehen einen etwa Tennisball großen Glas-Tropfen. In den Berufsstand der Glasbläser ist Emmylou eher zufällig gestolpert, als sie nach Ausbildungsplätzen für Kunsthandwerker suchte. „Glas ist ein lebendiges Material“, erzählt die junge Französin fasziniert, „und dieser Masse eine schöne Form verleihen zu können ist ziemlich cool.“

Die drei Glasbläser bewegen sich wie in einer einstudierten Choreographie durch die Werkstatt. Fotonachweis: Oliver Raatz

Um die zukünftige Christbaumkugel einzufärben, rollt sie die Masse in einem farbigen Pulverhäufchen, das auf einem Tisch in der Mitte des Raumes liegt. Durch erneutes Erhitzen im Ofen verschmelzen Pulver und Glas miteinander. Dann setzt sich Emmylou an eine Werkbank, an der sie das Glas mit einer Technik aus Pusten und Drehen in eine runde Form bringt. „Es ist gar nicht so schwer“, erklärt sie, „etwa so, als würde ich einen Luftballon aufpusten.“ Sobald die Christbaumkugel die richtige Größe erreicht hat, trennt Emmylou die lange Glasmacherpfeife mit einem sanften Stoß ab. Jetzt noch einen kleinen Glasring auf die Kugel gesetzt und fertig ist der Baumschmuck. „So entsteht alle drei Minuten eine neue Christbaumkugel“, beendet Emmylou die Vorführung strahlend.

Eine tief verwurzelte Tradition

„Wegen der großen Holz- und Sandvorkommen in den Vogesen wird hier schon seit langem Glas produziert“, erzählt David Suck, Präsident der Verbandsgemeinde, „Glasmacher war damals der am häufigsten ausgeübte Beruf.“ Im 17. Jahrhundert wurden in der Gegend mehrere Produktionsstätten eröffnet, einige davon sind bis heute in Betrieb. Die Bevölkerung ist stolz auf den Ruf als traditionelle Kunsthandwerks-Region. Das Meisenthaler Glaskunstzentrum ist eine von drei historischen Glaskunststätten, die zusammen Étoiles Terrestres, „Irdische Sterne“, genannt werden. Die zweite steht in Saint-Louis-lès-Bitche, kurz Saint-Louis genannt, nur zehn Minuten mit dem Auto entfernt.

Jedes Stück ein Unikat

Dort liegt gerade ein weiß-grüner Büffel auf einer beheizbaren Platte. Stoisch schaut er seinem Schicksal entgegen: der durchsichtigen Glaskugel am anderen Ende des Tisches, die in wenigen Stunden über ihn gestülpt wird. Der Büffel gehört zur Serie der chinesischen Tierkreiszeichen, die die Briefbeschwerer-Abteilung hier jährlich herausbringt. „Die Saint-Louiser Briefbeschwerer sind auf der ganzen Welt bekannt und bei Sammlern beliebt“, erzählt Xavier Zimmermann stolz. Er leitet die Werkstatt seit 15 Jahren und trägt die Auszeichnung „Meilleur Ouvrier de France“ – bester Facharbeiter Frankreichs. Auf seinem Schreibtisch herrscht ein buntes Gewusel aus Miniaturfiguren: dort ein schwarzer Skorpion, hier ein Jaguar und daneben eine Handvoll rosafarbener Pferdchen.

Je nach Komplexität der Designs dauert die Herstellung eines Briefbeschwerers zwischen 6 und 15 Arbeitsstunden. Eine von Xaviers Mitarbeiterinnen stellt gerade die Basis des Briefbeschwerers, ein Podest aus Millefiori, her – bunte Glasscheibchen mit wenigen Millimetern Durchmesser. Da alles von Hand hergestellt wird, gleicht am Ende kein Briefbeschwerer dem anderen, jeder einzelne ist ein kleines Unikat.

Eine Arbeiterin ist im linken Bildrand zu erahnen. Sie schaut auf ihren Arbeitstisch auf dem der Sockel eines Briefbeschwerers entstehen wird. Fotonachweis: Oliver Raatz
Die Königliche Glaserei

Die Kristallmanufaktur Saint-Louis-lès-Bitche, in der die Briefbeschwerer-Werkstatt liegt, war eine der ersten Glashütten Frankreichs. Sie wurde im 18. Jahrhundert auf Erlaubnis des Königshauses errichtet und durfte ihre Trinkgefäße unter dem Titel „Königliche Glasmanufaktur Saint-Louis“ vermarkten. Einige Jahre nach Eröffnung gelang es den Glasmachern als erste Manufaktur auf dem europäischen Festland, Kristallglas herzustellen – ein Glas, das mindestens zehn Prozent Blei enthält, härter als normales Glas ist und sich schleifen und gravieren lässt.

In den darauf folgenden Jahren stellte die Glashütte sowohl Glas- als auch Kristallwaren her, seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Firma auf Kristall spezialisiert. Bei einem geführten Rundgang durch die Produktionshallen können die Besucher den Vasen, Gläsern und Lampen, vom heißen Materialgemisch bis zum letzten Schliff in der Gravur-Abteilung, beim „Großwerden“ zusehen.

Schliff, Gravur und Dekor

Das laute Brummen der Schleifmaschinen erfüllt die lichtdurchflutete Werkstatt. An einem Schreibtisch im hinteren Ende des Raumes steht Claudia Lejeune und misst konzentriert die Abstände zwischen den weißen und schwarzen Farbmarkierungen auf einem Champagnerglas nach. Die Kristallgläser aus Saint-Louis sind besonders aufwändig verziert.

An der Schleifmaschine eingearbeitete Diamantschliffe und abgeflachte Furchen; von Hand eingravierte Muster oder mit dem Pinsel angebrachtes Platindekor: Die Möglichkeiten, die Kristallgläser zu verzieren, sind schier endlos. Und die Kristallmanufaktur ist bekannt dafür, diese voll auszuschöpfen. „Unser Beruf ist wirklich etwas Besonderes“, sagt Claudia und betrachtet stolz ein rotes Kristallglas. „In einer Stunde wird das Glas ganz anders aussehen. Das hat doch einfach etwas Zauberhaftes“.

Tipp:

Über 2000 Ausstellungsstücke aus der über zweihundertjährigen Geschichte der Produktionsstätte sind im Kristallmuseum, im Eingangsgebäude der großen Manufaktur, untergebracht. Nach dem Rundgang haben Besucher auch die Möglichkeit, einen Blick in die Produktion zu werfen.

www.etoiles-terrestres.fr/de/

An einem Schreibtisch im hinteren Ende des Raumes steht Claudia Lejeune und misst konzentriert die Abstände zwischen den weißen und schwarzen Farbmarkierungen auf einem Champagnerglas nach. Fotonachweis: Oliver Raatz
Gefällt Ihnen, was Sie sehen?

Die Großregion hat noch viel mehr zu bieten! Werfen Sie doch einen Blick auf die folgenden Geschichten aus der Region und lassen Sie sich inspirieren.