Ourthe-Vesdre-Ambleve
Fotonachweis: © FTPL Gregor LenglerVon der Schönheit der Steine
Eine Viertelstunde von Lüttich entfernt locken die Täler von Ourthe, Weser und Amel mit unberührter Natur. Neben verwunschenen Wäldern gibt es kleine geologische Wunder zu entdecken.
Camille Ek zieht das Halstuch in Form und winkt einer jungen Mutter zu, die mit ihrer Tochter unten am Hang steht: Gleich ist Führung, und der Geologe freut sich, dass die ersten Gäste schon so früh eintreffen. „Es gab zwischendurch mal eine Zeit, da hat die Geologie nur die alten Leute interessiert. Mittlerweile kommen aber auch wieder viele jüngere, das ist doch wunderbar.“ Wo war er? Ach ja, die stratigraphische Skala, in der er gerade steht. Tonnen von unterschiedlichen Steinen in diversen Farbtönen sind an diesem Hügel bei Comblain au Pont in einen Hang gelegt worden. Sie stammen aus verschiedenen Erdschichten. Übereinander gelegt zeigen sie, wie es im Innern der Erde Walloniens aussieht. Und wie sieht es aus? „Ganz hübsch, finde ich. Was meinen Sie?“
Camille Ek ist das, was man eine Koryphäe nennt. Der Geologe hat in den Sechziger Jahren an der Universität von Lüttich promoviert, in Montreal, Luxemburg und Lima gelehrt, weit über hundert wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und etliche Expeditionen geleitet, Afrika, Syrien, China. Schon mit 17 oder 18 Jahren habe er eine Vorliebe für schöne Steine gespürt, sagt er. „Ich habe Fossilien und Mineralien schon immer geliebt. Die Natur ebenfalls, und auch die Tiere natürlich – aber noch mehr die Steine. Und ich bin sehr glücklich, in dieser Region hier zuhause zu sein. Die Gesteine hier sind wirklich wunderschön.“
Die Region hier wird OVA abgekürzt, die drei Buchstaben stehen für Ourthe-Vesdre-Amblève. Die grünen Täler der Ourthe-Weser-Amel sind so etwas wie der Vorgarten von Lüttich, in einer Viertelstunde ist man aus der Großstadt in unberührter Natur. Man kann hier Kajakfahren und Mountainbiken, vor allem aber kann man Wandern: 700 Kilometer ausgeschilderte Wege so nah an einer Großstadt muss man irgendwo anders auch erst einmal finden.
Wo fängt man an? Am besten hoch über der Ourthe, kurz nach Sonnenaufgang, am Aussichtspunkt Roche aux Faucons. Ist das ein Panorama! Der Fels fällt hier beinahe lotkrecht nach unten, und passenderweise legt der Fluss unter einem genau an dieser Stelle eine malerische Schlaufe hin, als habe er genau gewusst, dass er von hier bewundert werden wird. Man sieht einzelne Bauernhöfe, Kühe im Morgendunst und die Wolken, wie sie sich in der Ourthe spiegeln. Man sieht eine Landschaft, die unter einem liegt, als sei sie dort hingemalt worden und überhaupt nicht echt.
Solche Momente hat man immer wieder mal, wenn man in der Region wandert. Felswände stehen senkrecht im Wald, als seien sie Spielkarten von Riesen, aus der Hand gefallen bei der letzten Partie vor langer, langer Zeit. Man läuft über große Kiesel und kurz darauf an Steinen vorbei, die im Licht der Sonne zu glitzern scheinen. Manchmal hört man es gluckern und glucksen, und wenn man dem Geräusch folgt, entdeckt man kleine Wasserfälle mitten in einem verzauberten Wald. Dann kommt man sich vor, als sei man der allererste Mensch, der den Weg hierhin gefunden hat.
Comblain-au-Pont ist ein guter Ort für eine ausgedehnte Mittagspause. Es gibt Baguettes und belgisches Bier auf einer Terrasse mitten in einem Ort, der komplett aus den Steinen der Umgebung erbaut worden ist. Wer noch tiefer in die geologische Vergangenheit einsteigen möchte, kann die nahe gelegene Höhle besuchen und nach Fledermäusen Ausschau halten.
Und wenn anschließend noch Zeit ist? Muss man unbedingt noch ins Tal des Ninglinspo. Belgiens einziger Wildbach rauscht mit erstaunlichem Gefälle zwischen riesigen Quarzitblöcken durch den Wald. Der Wanderweg entlang seiner Wasserfälle und Pools zählt zu den schönsten der Ardennen. Camille Ek würde sagen, dass das an den Steinen liegt. Ganz bestimmt würde er das.
Und so kam es, dass Stoffe aus dem kleinen Verviers in die große Welt geliefert wurden: Wahrscheinlich gab es damals kaum eine Armee auf dem Kontinent, die nicht in Uniformtuchen von hier kämpfte.
Zuerst wurde die Wolle in kleinen Manufakturen verarbeitet; als Anfang des 19. Jahrhunderts große Maschinen die Handräder ersetzten, begann auch in Verviers eine neue Ära. Bei einem Besuch im Woll- und Modezentrum (CTLM – Centre Touristique de la Laine et de la Mode) kann man nachvollziehen, wie rasant die Entwicklung damals verlief, als innerhalb weniger Jahrzehnte immer modernere Scher- und Spinnmaschinen erfunden wurden. Und wieder hatte Verviers einen Standortvorteil gegenüber den Produktionsorten in der nahen Eifel: Die Stadt war wesentlich besser an die großen Verkehrs-und Transportwege angebunden. Wolle aus Übersee und preiswerte Kohle kamen schneller nach Verviers. Und was in der Stadt produziert wurde – kam schneller auf die Märkte der Welt.
Wer will, kann sich nach dem Besuch im Woll- und Modezentrum noch auf den Weg machen: Der Rundgang „Auf in die Stadt der Wolle“ führt an mehreren historischen Maschinen aus verschiedenen Epochen der Textilindustrie vorbei. Und so ganz nebenbei sieht man auf ihm auch die schönsten Gebäude aus der Glanzzeit Verviers. Vier Kilometer ist der Rundweg lang. Falls man anschließend Appetit verspürt, kann man sich in der Boulangerie George ja einen Reiskuchen kaufen.
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