An der Seite einer Kunstgalerie verkünden große Buchstaben, dass sich dort die Fotosammlungen von Edward Steichen befinden.

Steichen Collections

Fotonachweis: Thomas Linkel
Steichen Collections: Aus Liebe zur Fotografie

Edward Steichen, einst Direktor der Abteilung für Fotografie des MoMA (Museum of Modern Art) in New York, hat seinem Heimatland Luxemburg zwei grandiose Sammlungen vermacht. Die Ausstellungen „The Bitter Years“ und „The Family of Man“ sorgen seither an zwei höchst unterschiedlichen Orten für Aufsehen.

Bevor Francesca Vantellini an die Arbeit geht, streift sie zunächst ihre schneeweißen Baumwollhandschuhe über. Dann konzentriert sich die Restauratorin ganz auf das Foto. Es wirkt, als würde sie das Bild mit ihren Augen Millimeter für Millimeter unter der lichtstarken Lampe abscannen, dabei nimmt sie auch eine Lupe und ein Mikroskop zur Hilfe. Registriert die kleinsten Schäden, etwa haarfeine Risse oder einen hauchdünnen Anflug von Schimmel. Macht sich eine kleine schnelle Skizze mit Bleistift und geht dann sorgsam ans Werk. Jede Bewegung, egal ob mit Pinsel, Wattestäbchen oder Skalpell, ist nun wohl überlegt, nichts dem Zufall überlassen.

„Das Allerwichtigste ist die Bestandsaufnahme: Aus welchen Materialien besteht das Objekt? Handelt es sich wirklich um ein historisches Foto? Man muss es behutsam analysieren und wirklich kennen, bevor man mit der eigentlichen Restaurierung anfangen kann“, sagt Francesca Vantellini, die ihre Liebe zum Beruf schon während der Kindheit in der alten Heimat Italien entdeckt hatte. Heute arbeitet die Kunstrestauratorin am Centre National de l’Audiovisuel (CNA) im luxemburgischen Ort Düdelingen nahe der französischen Grenze. Und in unmittelbarer Nähe sind zahlreiche Resultate ihrer sorgsamen Aufarbeitung zu bewundern.

Francesca Vantellini erscheint in Nahaufnahme auf dem Bild, über eine alte Fotografie gebeugt. Sie ist gerade dabei, das Bild zu restaurieren. Fotonachweis: Thomas Linkel
In einer Galerie hängen schwarz-weiße Bilder von der Decke. Eine Frau geht durch die Ausstellung.
Fotonachweis: Thomas Linkel
Ein mächtiger Wasserturm ist Ausstellungsort für „The Bitter Years“

Direkt neben dem CNA reckt sich ein alter Wasserturm auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks gen Himmel, der eine einzigartige Sammlung beherbergt. Die Galerie im „Waassertuerm“ zeigt die Ausstellung „The Bitter Years“, die Edward Steichen (1879–1973) als Direktor der Abteilung für Fotografie des MoMA (Museum of Modern Art) in New York zunächst Anno 1962 dort kuratierte. „Edward Steichen war Maler, Regisseur, Ausstellungskurator und einer der bekanntesten Fotografen des 20. Jahrhunderts“, sagt Paul Lesch, Direktor des CNA. „Weil er seine alte Heimat Luxemburg nie vergessen hat, machten er und das MoMA uns zwei großartige Sammlungen zum Geschenk“ – darunter die „Bitter Years“, seit 2012 in dem mächtigen Wasserturm von Düdelingen dauerhaft untergebracht.

Wer den Aufzug an der Spitze des Turms verlässt, betritt einen runden Ausstellungsraum, komplett in Schwarz gehalten und von sanftem Licht illuminiert. Wenn sich die Augen ans Halbdunkel gewöhnt haben, ziehen die Schwarzweiß-Bilder an den Wänden den Besucher sofort in ihren Bann. Aufgrund der begrenzten Ausstellungsfläche werden hier im Wechsel mehr als 200 Fotos vom ländlichen Amerika während der Weltwirtschaftskrise, der Großen Depression gezeigt. Sie vermitteln dem Betrachter ein Gefühl von Elend und Armut, von einem Dasein voll harter körperlicher Arbeit, die am Ende doch nur gerade so zum Überleben reichte.

Ein Wasserturm, der eine der Steichen-Fotokollektionen beherbergt, ist vor einem blauen Himmel mit weißen Wolken abgebildet. Im Hintergrund sind Bäume zu sehen. Fotonachweis: Thomas Linkel
Das Dorf Schengen von oben aus der Vogelperspektive.
Fotonachweis: Oliver Raatz

„We trust in the Lord and don’t expect much“, heißt nicht umsonst ein Wahlspruch aus jenen Tagen an der Wand. „Die Bilder wurden Ende der 1930er- und Anfang der 1940er-Jahre aufgenommen“, sagt CNA-Direktor Paul Lesch. Es handelte sich um eine in Auftrag gegebene Dokumentation des ländlichen Lebens in den USA zu dieser Zeit. Aus rund 200.000 Fotos wählte Steichen 1962 die Werke für „The Bitter Years“ aus, die die Krise, aber auch den Stolz des Landes in jener Zeit zeigen und auch Themen wie Rassismus aufgreifen – damit ist die Ausstellung heute aktueller denn je. Die Bilder können den Betrachter zutiefst berühren, auch ein Gefühl von Dankbarkeit erzeugen, heute ein gutes, sicheres Leben führen zu dürfen.

Als Kontrastprogramm findet man die zweite große Sammlung der Steichen Collections rund 80 Kilometer nördlich von Düdelingen. In den sorgsam klimatisierten Räumen des Schloss Clervaux aus dem 12. Jahrhundert, das majestätisch über der Gemeinde Clerf aufragt, finden sich 503 Aufnahmen von 273 Fotografen aus 68 Ländern. Edward Steichen hatte sie für das MoMA zusammengetragen und erstmals 1955 unter dem Namen „The Family of Man“ präsentiert – als Manifest für den Frieden und die fundamentale Gleichheit der Menschen, als eine pazifistische Ausstellung, die sich an der humanistischen Fotografie der Nachkriegsjahre orientiert.

Der Wasserturm, der die Steichensammlungen beherbergt, ist von oben und links vom Fluss unten zu sehen.

Fotonachweis: Thomas Linkel
An einem sonnigen Tag ist eine der Kunstausstellungen im Freien zu sehen.

Fotonachweis: Thomas Linkel
Ein weiterer Blick aus der Vogelperspektive auf Schengen und das Außengelände der Kunstausstellung, mit Becken im Vordergrund und Gebäuden im Hintergrund.

Fotonachweis: Thomas Linkel
„The Family of Man“ gilt als meistbesuchte Fotoausstellung der Welt

„Die Ausstellung ist seit ihrer Eröffnung im MoMa extrem erfolgreich“, sagt CNA-Direktor Paul Lesch. Sie wurde später in mehr als 150 Museen auf der ganzen Welt gezeigt, ist mit etwa 10 Millionen Besuchern heute die meistbesuchte Fotosammlung überhaupt und wurde folgerichtig ins Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen. Ihre letzte vollständige Version ist nun seit 1994 als Dauerausstellung im Schloss Clervaux untergebracht, von Steichen bei einer Reise nach Luxemburg in den 1960er-Jahren als „perfekter Ort“ bezeichnet – eine Legende in der Geschichte der Fotografie.

Die in höchst unterschiedlichen Formaten gehaltenen Bilder bestehen aus Silber-Gelatin-Abzügen, die auf Holzplatten verklebt sind. Die empfindlichen Originalabzüge sind durch die vergangene Zeit und die langen Reisen zum Teil stark beschädigt – viel Arbeit also für Fachleute wie Restauratorin Francesca Vantellini. Von der schieren Menge der Bilder wird der Besucher anfangs förmlich erschlagen. Die Werke konfrontieren ihn mit der ganzen Bandbreite menschlicher Emotionen und den unterschiedlichsten Lebenswelten.

Ein Mann steht da, schaut in die Kamera und lächelt. Sein Mund ist geschlossen und er trägt ein blaues Hemd. Fotonachweis: Thomas Linkel

Da sieht man fröhliche Kinder beim Tanzen, ein herzhaft lachendes Paar während einer Aufführung, Soldaten im Schützengraben, einen durstigen Mensch, der endlich einen Schluck Wasser erhält, Neugeborene, einen vollen Theatersaal, die UN-Vollversammlung, einen Bombenabwurf … Die Bilder regen zum Nachdenken an, über das Leben, über die Welt, sich selbst. Sie hallen innerlich nach, ein einziger Besuch reicht kaum aus, um die Sammlung in ihrer Gänze zu erfassen.

Untypisch bei einer solchen Präsentation ist, dass der Betrachter keinerlei Infos zu den einzelnen Werken erhält. „So kann er die Bilder mit sich selbst in Verbindung bringen“, sagt Anke Reitz, Kuratorin der Sammlung in Clervaux, „die ,Family of Man’ funktioniert wie ein großes Familienalbum, in dem man vielleicht Mitglieder erkennt, obwohl es nicht die eigenen sind. Sie wirkt auch wie eine große Bildergeschichte, die verschiedene Geschichten des Lebens auf dem Planeten erzählt. Und ist damit eine emotionale Erfahrung, die jeder Besucher für sich selbst machen kann.“

Der Wasserturm, der die Steichensammlungen beherbergt, ist von oben und links vom Fluss unten zu sehen.
Fotonachweis: Thomas Linkel
Zitate aus der Bibel oder aus der Weltliteratur ergänzen die Bilder

Die Bilder werden dabei anstelle von Erklärungen durch Zitate ergänzt, Sprüche aus der Bibel etwa oder Sätze aus der Weltliteratur. „Der Besucher geht durch die Ausstellung wie durch einen Film und verbindet die einzelnen Elemente selbst“, sagt Anke Reitz, und: „Was auf den Betrachter gestern wie heute wirkt, ist die besondere Szenographie – wir haben riesige Aufnahmen und ganz kleine Bilder, die für sich genauso wirken wie im Dialog miteinander.“

Restauratorin Francesca Vantellini im Centre National de l’Audiovisuel ist derweil fertig mit einem Bild. Zur Reparatur feiner Risse hat sie japanisches Papier, Cellulose und Stärke verwendet, bis auf sanfte Lösungsmittel keinerlei Chemie eingesetzt. „Ein Foto-Restaurator muss strengen ethischen Regeln folgen“, sagt sie. „Jede Fotografie ist zerbrechlich. Und wir selbst sind keine Künstler – unsere Aufgabe ist es, die Bilder so original wie möglich zu bewahren.“ Damit sich auch zukünftige Generationen an den Werken der luxemburgischen Steichen Collections erfreuen können.

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